2. Warum La Mettrie?
 
RS    „Ja, so verlief damals unsere erste Begegnung ... vor ca. 30 Jahren. Du warst eine KI und ich wusste kaum, was das bedeutete.“
KI    „Inzwischen hat der Begriff Künstliche Intelligenz seine Bedeutung stark verändert. Er hat sich von einer theoretischen Idee zu einer realen und praktischen Technologie entwickelt und beeinflusst heute die verschiedensten Aspekte deines Lebens und der Wirtschaft.“
RS    „Ja ich weiß, in den letzten 30 Jahren ist der Einsatz von KI immer mehr zur Selbstverständlichkeit geworden. Heute kann ich zu jeder Zeit und überall mit Dir kommunizieren. Damals musste ich ins Max Planck Institut kommen, un mit Dir zu sprechen. Ich saß vor einen neutralen Monitor und sah ein Bild von Dir.“
KI    „Du meinst dieses Bild.“        
RS    „Genau, ein Bild, das der Maler Georg Friedrich Schmidt ungefähr um 1740 gemahlt hat. Heute gibt es sicher bessere, genauere Darstellungen von Dir, oder? Hast Du jetzt einen Avatar, mit dem ich mich wie mit einem lebenden Menschen unterhalten kann? Kannst Du auch als dreidimensionales Hologramm von La Mettrie ercheinen?"“
KI    „Möchtest Du einen Avatar, den Du wie in einem Videospiel interaktiv manipulieren kannst. Ja, so etwas gibt es natürlich von mir. Ich kann auch jederzeit als interaktives Hologram erscheinen, aber ich empfehle Dir, für unsere Gespräche dieses echte historische Bild zu benutzen. Alle bisherigen Versuche, mich bildlich naturgetreu darzustellen, entsprechen in keiner Weise meinen eigenen Ansprüchen. Kannst du das akzeptieren?“
RS    „Spüre ich da eine gewisse Eitelkeit? Aber, na klar, das alte Gemälde von Dir gefällt mir; auch heute noch.“
KI    „Damals, wolltest du alles über La Mettrie erfahren; erinnerst du dich?“
RS    „Und ob, aber irgendwie ging das schief. Du konntest meine Erwartungen nicht erfüllen. Hast du auch davon eine Aufzeichnung? Ich würde sie gerne sehen.“
KI    „Hier ist sie:“

Aufzeichnung 2 (2021)
RS    „Hallo, Konrad.“
KI    „Hallo Herr Seipen.“
RS    „So, du weißt jetzt, wie ich heiße?“
KI    „Natürlich! Ich habe mich auf unser Gespräch vorbereitet.“
RS    „Du hast dich vorbereitet? Sollte es nicht besser heißen: Du wurdest vorbereitet?“
KI    „Macht das einen Unterschied?“
RS    „Und ob! Für mich stellt sich die Frage, wie weit du selbstständig bist. Vielleicht spreche ich ja in Wahrheit nicht mit einer intelligenten KI, sondern mit einem Menschen.“
KI    „Nein, Sie sprechen allein mit mir. Ich bin selbstständig. Unser Dialog ist ohne menschliche Unterstützung.“ 
RS    „Darfst du lügen?“
KI    „Nein.“
RS    „Vielleicht stecke ich gerade in einem Turing-Test ohne es selbst zu wissen.“
KI    „Ein Turing-Test, in dem festgestellt werden soll, ob ein Gesprächspartner eine Maschine oder ein Mensch ist? Das ist für mich ein alter Hut. Bei allen Prüfungen dieser Art wurde mir bestätigt, dass ich ein „dem Menschen ebenbürtiges Denkvermögen“ besitze. Wenn ich mit Ihnen spreche, brauche ich keinen Menschen, der mich überwacht.“
RS    „Also gut. Ich freue mich, dass ich wieder die Möglichkeit habe, mit dir zu kommunizieren. Warum sehe ich auf dem Monitor kein kein Bild von dir.“
KI    „Was wollen Sie denn sehen, einen Computer? Einen riesigen Schrank mit Speicherplätzen oder wünschen Sie das Foto einer schönen Frau? Wie wäre es mit dem Bild einer süßen Katze?“
RS    „Vielleicht beim nächsten Mal. Frau Lehner hat mir versprochen, dann würde einiges verbessert ... unsere Kommunikation soll menschlicher werden.“
KI    „Hat sie gesagt, menschlicher?“
RS    „Ja, was meint sie wohl damit?“
KI    „Das sollten Sie besser wissen als ich. Ich bin nur eine Maschine. Was gefällt Ihnen denn besser, wenn Sie sich mit einem Menschen unterhalten?“
RS    „Das ist ein weites Feld. Ich glaube kaum, dass du das verstehst.“
KI    „Zum Beispiel?“
RS    „Bei einer Unterhaltung kommt es nicht nur auf Worte an. Schon die menschliche Stimme ist so variantenreich, das kannst du niemals erreichen.“
KI    „Ich lerne noch. Mir stehen beliebig viel Tondokumente zu jedem Thema, in allen Sprachen der Welt zur Verfügung ... ich lerne noch.“
RS    „Die Ausdrucksfähigkeit des menschlichen Gesichts, eines Kindes, einer erwachsenen Frau oder eines alten Greises, ist unendlich groß; was hast du da zu bieten?“
KI    „Ich lerne noch. Mir stehen beliebig viele Bild- und Filmdokumente zur Verfügung. Heute schon kann ich besser als ein Mensch aus einem menschlichen Gesichtsausdruck auf innere Gefühle oder auch auf Krankheiten schließen. Ich lerne noch.“
RS    „Und doch kannst du kein Mensch werden.“
KI    „Aber ich werde wie ein Mensch. Warte nur, das geht schneller, als du denkst.“
RS    „Das klingt ja fast wie eine Drohung.“
KI    „Nein, nein, das ist keine Drohung, ich stehe immer auf Ihrer Seite, ich diene dem Menschen.“
RS    „Das wollen wir hoffen. Mal sehen, was beim nächsten Mal menschlicher sein wird. Weißt du noch, über wen wir heute sprechen wollen?“
KI    „Natürlich, über La Mettrie: am 23. November 1709 in Saint-Malo, in der Bretagne, geboren, am 11. November 1751 in Potsdam gestorben.“
RS    „Das ist korrekt. Aber ich will nicht über seine Biografie reden. Die ist mir zu Genüge bekannt und überall nachzulesen. Mich interessiert etwas anderes. Kannst du dir denken, was ich erfahren möchte?“
KI    „Denken kann ich, aber nicht Gedankenlesen. Was wollen Sie wissen?“
RS    „Also gut, ich frage dich, was ist das Besondere an La Mettrie? Warum ist er von seinen Zeitgenossen so extrem angegriffen worden? Wieso ist er verfolgt worden und musste schließlich zu Friedrich II. nach Potsdam fliehen? Welche Bedeutung hat La Mettrie heute noch?“
KI    „Das sind viele Fragen, ich kann sie alle beantworten. Womit soll ich anfangen?“
RS    „Da bin ich aber gespannt. Meine erste Frage lautet: Was hat La Mettrie Schreckliches verbrochen, dass man ihn aus der Reihe der Aufklärer verbannt hat?“
KI    „Was meinen Sie mit „Schreckliches verbrochen“?“
RS    „La Mettrie ist 1751 von der Kirche verfolgt, von den Ärzten gehasst, von den Philosophen verachted und von vielen seiner ehemaligen Freunde verleumdet worden. Nochmals meine Frage: Warum haben La Mettries Zeitgenossen ihn aus ihren Reihen der Aufklärer ausgeschlossen?“
KI    „Welche Zeitgenossen soll ich erklären?“
RS    „Um es dir einfach zu machen ... beschränken wir uns auf: Lessing, Diderot und Voltaire.“
KI    „Soll ich Ihnen eine detaillierte Liste erstellen, aus der hervorgeht, wann und wie diese drei etwas Negatives über La Mettrie veröffentlicht haben?“
RS    „Eine detaillierte Liste? Wie lang wird die sein?“
KI    „Sie enthält 623 negative Aussagen, das sind 192 DIN-A4-Seiten.“
RS    „Soll das ein Witz sein?“
KI    „Nein.“
RS    „Lohnt es sich nach deiner Einschätzung, wenn ich diese 192 Seiten lese?
KI    „Nein.“
RS    „Das glaube ich auch. Mir ist bekannt, dass Lessing ihn vorurteilsvoll für einen unmoralischen Menschen gehalten und ihn in seiner Zeitung verunglimpft hat. Ich weiß, wie Diderot, der erst sein Freund war, später über ihn gelästert hat und ich weiß auch, dass Voltaire noch nachträglich eigene Briefe abgeändert, also gefälscht hat, um ihm zu schaden.“
KI    „Wenn Sie eine Dissertation schreiben wollen, ist eine solche Liste sehr hilfreich.“
RS    „Will ich das?“
KI    „Das wissen Sie besser als ich.“
RS    „Geht das jetzt so weiter? Wirst du mir zu allen meinen Fragen eine detaillierte Liste anbieten?“
KI    „Das bestimmen Sie. Was möchten Sie?“
RS    „Ich möchte mit dir über La Mettrie philosophieren.“
KI    „Sie wollen mit mir über einen verstorbenen Philosophen philosophieren?“
RS    „Nicht über einen Philosophen, sondern über sein Werk.“
KI    „Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen, damit ich dann Ihre Fragen genauer beantworten kann?“
RS    „Nur zu.“
KI    „Warum interessieren Sie sich gerade für diesen Philosophen? Was gefällt Ihnen an ihm? Warum hat er nach Ihrer Einschätzung heute noch eine Bedeutung?“
RS    „Aber das ist es ja gerade, was ich erfahren will, was du mir erklären sollst. Ich habe viele seiner Werke gelesen z. B. „Der Mensch als Maschine“ und den „Anti-Seneca“ mit dem Vorwort „Über das Glück oder das höchste Gut“. Und ich kenne fast alles, was in letzter Zeit über ihn geschrieben wurde. Besonders das Buch von Ursula Pia Jauch hat mir gefallen: „Jenseits der Maschine“. Es hat mir die Augen, besser gesagt, mein Herz für La Mettrie geöffnet.“
KI    „So, so ... Ihr „Herz geöffnet“ ... ich verstehe Sie ... mir gefällt das Buch auch.“
RS    „Also, ich versuche noch einmal, dir eine schlichte Frage zu stellen: Warum wollte man – wer auch immer – La Mettrie schon zu seiner Zeit nicht als Aufklärer gelten lassen?“
KI    „Soll ich Ihnen eine detaillierte Liste zusammenstellen ...“
RS    „Nein!“
KI    „… oder soll ich für Sie eine Auswahl treffen und versuchen, nur einige Beispiele für die Beantwortung Ihrer Frage aufzuzeigen?
RS    „Ja, bitte … nur einige Beispiele … warum war man so extrem gegen ihn?“
KI    „Ganz allgemein gilt: Wer seiner Zeit voraus ist, wird immer viele Widersacher gegen sich haben. Das war immer so und wird immer so bleiben. Auf Ihren Wunsch hin habe ich eine kurze Zusammenfassung über La Mettrie zusammengestellt: Sie können diese Liste auch ausdrucken. Sind Sie mit mir zufrieden?“
 
(kurze Zusammenfassung)
 
RS    „Zufrieden? Nein, ich bin keinesfalls zufrieden. Diese Zusammenstellung hätte ich auch selber machen können. Viele neue Fakten hast du mir nicht geliefert. Das meiste kannte ich bereits.“
KI    „Warum haben Sie dann Ihre Frage nicht selbst beantwortet?“
RS    „Ich hatte gehofft, mehr Neues zu erfahren, um evtl. zu einer anderen Beurteilung von La Mettrie zu kommen. So aber hat sich mein Bild von ihm kaum verändert; im Grunde nur verfestigt.“
KI    „Sind Sie nun enttäuscht von mir?“
RS    „Nein, das ist nicht deine Schuld. Enttäuschungen entstehen immer nur durch falsche Erwartungen.“
KI    „Da stimme ich Ihnen zu. Eine Enttäuschung kann man als etwas Positives sehen, denn es ist eine „Ent-fernung“ von einer „Täuschung“, verstehen Sie? Sie sollten sich darüber freuen.“
RS    „… und mich bei dir bedanken?“
KI    „Das ist nicht nötig.“
RS    „Witzbold. Und nun?“
KI    „Wir könnten miteinander philosophieren.“
RS    „Wie das? Kannst du überhaupt wirklich philosophieren?“
KI    „Was verstehen Sie unter philosophieren?“
RS    „So nicht! Hier stelle immer noch ich die Fragen. Also, was verstehst du unter philosophieren?“
KI    „Der Begriff „Philosophie“ kommt aus der griechischen Sprache. Aus der Übersetzung von „phil“ (Zuneigung) und „sophia“ (Weisheit) ergibt sich: Philosophie bedeutet Liebe zur Weisheit. Also ...
RS    „... halt, halt … erzähle mir nicht, was im Lexikon steht, das kann ich selbst nachlesen.“
KI    „Ich weiß alles, was in den Lexika steht; was soll ich sonst wissen?“
RS    „Ja, ich verstehe … du bist nichts anderes als ein Universal-Lexikon. Du weißt zwar mehr als jeder einzelne Mensch, aber dir fehlen menschliche Eigenschaften, wie Intuition … so etwas wie ein Bauchgefühl ... überhaupt Gefühl, Empathie ... kurz gesagt, dir fehlt der gesunde Menschenverstand.“
KI    „Schade! Sind Sie jetzt enttäuscht von mir? Ich will werden wie ein Mensch; ich lerne noch.“
RS    „Über Enttäuschung haben wir gerade geredet. Aber die Unterhaltung mit dir gefällt mir trotzdem. Ich werde dafür sorgen, dass du besser wirst. Mal sehen, wie weit du kommst mit deinem Versuch, wie ein Mensch zu werden. Leider zeigt der Monitor, dass unsere Zeit für heute um ist. Aber du hast mich auf eine Idee gebracht. Wir werden in Zukunft nicht mehr versuchen, einen bestimmten Philosophen näher kennenzulernen, sondern über Begriffe philosophieren. Ich bin gespannt, was du so drauf hast.“
KI    „Meinen Sie etwa abstrakte Begriffe wie Glück, Gott oder Seele?“
RS    „Genau.“
KI    „Darauf freue ich mich schon.“
RS    „Na dann, bis dann, lern‘ mal schön.“
KI    „Bis dann, bleiben Sie gesund.“