Entwurf

7. Die Zeit – Jetzt, Zukunft, Vergangenheit

RS    „Hast du viel Zeit mitgebracht?“
KI    „Seltsame Frage! Unsere begrenzte Gesprächszeit ist doch mit dem Institut geklärt oder hat sie sich verändert? Ist sie gekürzt worden oder ist sie nun unbegrenzt?“
RS    „Das weißt du doch besser als ich. Unbegrenzte Zeit, was soll das denn sein? Ich frage Dich, was ist das eigentlich: Die Zeit? Du kannst doch alles erklären, oder?“
KI    „Ich kann versuchen, es Dir zu erklären ,.. aber ob Du ...?
RS    „Na, dann versuch es doch mal.“
KI    „Zeit ist, ebenso wie Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, zunächst einmal nur ein Wort ohne Bedeutung. Wie wir wissen, erhält jedes Wort seine Bedeutung erst durch die Zuschreibung von bestimmten Merkmalen und Eigenschaften. So wird ein Wort zu einem Begriff.“
RS    „Okay, das Wort Zeit ist also ein Begriff, weil es eine bestimmte Bedeutung hat. Aber ist Zeit auch ein Objekt der Welt?“
KI    „Wir hatten vereinbart, dass es grundsätzlich brauchbar ist, alles in der Welt als Objekt, ob konkret oder abstrakt, zu behandeln. Weil der Begriff Zeit nicht physisch erfassbar (nicht messbar) ist, gilt er als abstraktes Objekt der Welt.“
RS    „Nun mal langsam, du behauptest, Zeit sei nicht messbar?“
KI    „Leider befindest du dich schon wieder auf dem Weg nach Babylon.“
RS    „Wieso ich? Du sagst doch gerade, dass der abstrakte Begriff Zeit nicht wissenschaftlich erfasst werden kann.“
KI    „Ja, Babylon winkt: offensichtlich verstehst du unter Zeit etwas anderes als ich. Wir benutzen dasselbe Wort für verschiedene Begriffe.“
RS    „Wieso, Zeit ist Zeit.“
KI    „Eben nicht. Wenn man den Begriff Zeit als konkreten Begriff auffasst, dann meint man damit eine bestimmte Zeitdauer. Diese ist natürlich messbar. Wenn das Wort Zeit philosophisch benutzt wird, dann entsteht durch die Zuordnung von bestimmten Eigenschaften und Merkmalen der philosophische Begriff Zeit und dieser ist und bleibt abstrakt.“
RS    „Diese Unterscheidung scheint mir brauchbar zu sein. Aber was sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft?“
KI    „Wenn diese drei Begriffe nicht als messbare Zeitabschnitte verstanden werden, dann sind sie rein philosophische Begriffe.“
RS    „Also geistige Objekte, die immer nur als mentale Zustände in unserem Geist, in unserem Gehirn, erscheinen.“
KI    „Schön, dass du Zeit unterscheiden kannst als mentales, geistiges Objekt und als messbares, materielles Objekt. So wie wir das in „Die Welt als Summe aller Objekte“ schon besprochen haben.“
RS    „Aber ich habe noch ein tieferes Problem mit dem Zeitbegriff: Was ist ein Augenblick, was ist das Jetzt?“
KI    „Hier liegt der Hase im Pfeffer, wie ihr Menschen bei Problemen gerne sagt. Um Klarheit zu schaffen, müssen wir den Begriff jetzt klären bzw. im richtigen Kontext benutzen. Das ist nicht leicht, aber du schaffst das schon.“
RS    „Danke.“
KI    „Bitte.“
RS    „Also los, was bedeutet jetzt? Ist es ein Augenblick ohne Zeit oder eine kurze Zeitdauer?“
KI    „Zunächst müssen wir uns wieder von der Rutschbahn nach Babylon, vom metaphysischen „Sein“, von dem Wort „ist“, verabschieden.“
RS    „Du meinst, wir sollten uns mit brauchbaren Bezeichnungen für das Wort jetzt beschränken, damit daraus ein brauchbarer Begriff wird.“
KI    „Genau. Nehmen wir an, der Begriff Jetzt bezeichne eine eng begrenzte Zeitdauer in der Gegenwart, in der sich etwas ereignet ,..“
RS    „ ... dann ist er prinzipiell messbar, dann ist Jetzt ein materielles Objekt?“
KI    „mit dem Wort „ist“, befinden wir uns ganz schnell wieder auf dem Weg nach Babylon in die Sprachverwirrung. Wir müssen unterscheiden: Soll Jetzt ein Begriff sein oder ein Objekt?“
RS    „Oder beides? Können wir das nicht endlich ein für alle Mal klären?“
KI    „Na dann los: Zunächst müssen wir erkennen, ob wir ein Wort als wissenschaftlichen Begriff oder als philosophischen Begriff benutzen.“
RS    „Na dann los, wie ist das mit dem Begriff Jetzt?
KI    „Alle Objekte der Welt, ob materiell oder psychisch, unterliegen einer ständigen Veränderung.“
RS    „Einverstanden.“
KI    „Die Zustandsänderung selbst kann materiell oder auch rein geistig (mental) sein.“
RS    „Auch einverstanden. Aber manchmal sagst du geistig, manchmal mental oder auch psychisch. Andererseits sagst du materiell oder messbar und auch physikalisch. Ist das korrekt?“
KI    „Für unsere Zwecke ist das brauchbar und damit sinnvoll. Jeder dieser Begriffe steht eindeutig auf einer Seite, auf der physikalischen oder der philosophischen. Wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass Begriffe sowohl wissenschaftlich als auch philosophisch benutzt werden können und dabei grundverschiedene Bedeutungen haben können.“
RS    „Okay, das sehe ich ebenso. Bleiben wir beim Jetzt. Dieser Begriff wird benötigt, um den kurzen Moment, einer Zustandsänderung, zu benennen. Hat Jetzt nun eine philosophische oder physikalische Bedeutung?“
KI    „Lange Zeit wurde in der Naturwissenschaft angenommen, dass physikalische Prozesse (Veränderungen) selbstverständlich kontinuierlich ablaufen. Die moderne Physik, die Quantenmechanik, zeigt, dass man sich heute physikalische Größen und Prozesse diskret, also in gestuften Größen (gequantelt) vorstellen muss.“
RS    „Kannst du als Maschine überhaupt verstehen, was ein Moment, was ein Augenblick, also das Jetzt, für einen Menschen bedeutet?“
KI    „Für mich gilt genauso wie für dich die Festlegung: Zustandsänderungen, wie der Mensch sie als Denken und Fühlen erlebt, finden immer nur im Jetzt (im Moment des Augenblicks) statt. Ich kann – wahrscheinlich besser als ein Mensch – zwischen einem physikalischen Jetzt und einem geistigen Jetzt unterscheiden.“
RS    „Und, worin besteht der Unterschied?“
KI    „Der Unterschied besteht darin, ob man dem Jetzt eine Zeitdauer zuspricht oder ob Jetzt ein zeitloser Zustand der Gegenwart sein soll.“
RS    „Wieder stehe ich vor den Toren Babylons. Ist Jetzt ein Begriff oder ein Objekt? Ist Jetzt ein (zeitloser) Zustand oder eine Zustandsänderung?“
KI    „Gut, dass ich kein Mensch bin.“
RS    „Sehr lustig ... Aber benötigen Änderungen nicht immer eine Zeitdauer?
KI    „Nur wenn du physikalisch argumentierst. Und zwar nach den Gesetzen der klassischen Physik. Die Quantenphysik kommt der philosophischen Betrachtungsweise schon sehr entgegen.“
RS    „Wieso?“
KI    „Quantenmechanisch gibt es keine eindeutigen Zustände, nur Wahrscheinlichkeiten. So gesehen befindet sich alles in Superposition. Erst mit der Messung, der Beobachtung, entsteht die physikalische Eindeutigkeit, mit der der Mensch die Welt beobachtet, einordnet, also erkennt.“
RS    „Ich muss noch einmal nachfragen. Dem Jetzt, dem kurzen Moment der Veränderung in der Gegenwart, muss man doch Raum und Zeit zuordnen können, sonst kann der Mensch doch die Welt gar nicht nicht erfahren.“
KI    „Das stimmt, ein Moment, und sei er noch so klein, wird nach den Gesetzen der klassischen Physik immer eine bestimmte Zeitdauer benötigen.“
RS    „Kann man diese „momentale“ Zeitdauer bestimmen?“
KI    „Bis ins 19. Jahrhundert, ging man davon aus, dass die Erdrotation gleichmäßig verlief. Der Tag wurde in 24 Stunden, jede Stunde in 60 Minuten und schließlich jede Minute in 60 Sekunden aufgeteilt. Damit ist die Zeit eine physikalische Größe, die man messen und berechnen kann. Seit 1967 wird die Sekunde auf der Grundlage von Schwingungen des Cäsium-133-Atoms definiert.“
RS    „Aber was ist mit der philosophischen Zeit?“
KI    „Der Mensch kann Zustandsänderungen im Jetzt nicht direkt erleben, sondern immer erst mit zeitlicher Verzögerung, nach der Speicherung im Kurzzeit-Gedächtnis. Dann erst erscheinen Gedanken und Gefühle im menschlichen „Geist“, modellhaft, als gedankliche Abbilder, also immer als geistige Objekte.“
RS    „Du sagst: Zustandsänderungen, wie Gedanken, Gefühle, finden zwar in der Gegenwart, im Jetzt, statt, können aber nur als Vergangenes wahrgenommen werden?“
KI    „Genau, das physikalische Jetzt gibt es nur als Vergangenheit.“
RS    „Was passiert denn im Augenblick der Veränderung? Kannst du mir das beschreiben? Wissenschaftlich oder philosophisch?“
KI    „Nach der Quantendynamik sind Raum und Zeit gequantelt. Da bedeutet, dass bei Zustandsänderungen im atomaren Bereich Quanten (Elementarteilchen) im Jetzt in Raum und Zeit verändert werden. Physikalisch ist das nicht zu verstehen.“
RS    „Weil es nicht messbar ist?“
KI    „Genau. Philosophisch oder quantenmechanisch betrachtet ändert sich im Jetzt ein immaterieller Zustand in einem (physikalischen) Raum und innerhalb einer (physikalischen) Zeitdauer.“
RS    „Und was ist für dich als Maschine und für mich als Mensch nun die Wirklichkeit?“
KI    „Ich stelle nur fest: Die Wirklichkeit geschieht im Jetzt, in der Gegenwart. Die Gegenwart aber kann nicht wahrgenommen werden, weil sie keinen messbaren Raum und keine messbare Zeit enthält.
RS    „Hängt dann nicht jede Erfahrung vom Messen ab? Jetzt wird es aber Zeit, den Begriff Messen zu klären.“
KI    „Das ist zum Glück einfach. Physikalische Beobachtungen, empirische Ergebnisse werden durch „Messung“ festgelegt. Das Ergebnis ist immer Kontext abhängig. Z. B. davon, mit welcher (Relativ-) Geschwindigkeit sich der Beobachter, der Messende (die Messung), sich bewegt. Bis zum Zeitpunkt der Messung liegt das Messergebnis noch nicht vor. Erst mit der Messung wird der Kontext berücksichtigt und ein Ergebnis festgelegt.“
RS    „Ich erinnere mich: Jedes Messen ist ein Vergleichen des Messergebnisses mit einem vorgegebenen Maßstab, mit einer gültigen Norm.“
KI    „In Übereinstimmung mit der Quantenphysik ist für die Philosophie das Jetzt der zeitlose Moment der Gegenwart.“
RS    „Um es noch einmal zu wiederholen: Das Jetzt ist immer nur als Vergangenheit erfahrbar. Richtig?
KI    „Richtig.“
RS    „Die Gegenwart (das Jetzt) ist nicht direkt erfahrbar. Sondern „erscheint“ immer erst mit zeitlicher Verzögerung, (mit Speicherung im Kurzzeit-Gedächtnis) in unserem Bewusstsein.“
KI    „Ja, alles menschliche Erleben geschieht zunächst unbewusst im Moment des Jetzt durch neuronale Zustandsänderung, wird aber immer erst nach weiterer neuronaler Verarbeitung (Erinnern, Vergleichen, Verändern, Speichern) als Denken und Fühlen wahrgenommen. Deshalb erlebst du die Gegenwart also immer als etwas Vergangenes.“
RS    „Und was ist die Zukunft?“
KI    „Das ist doch nun einfach. Zukunft als Zeitdauer ist physikalisch zu verstehen. Zukunft als mentale Erscheinung ist eine Vorausplanung, die zwar im Jetzt geschieht, aber, ebenso wie die Gegenwart, immer erst nach zeitlicher Verzögerung erfahrbar wird. Zukunftsvorstellungen beruhen auf Grundlagen aus der Vergangenheit. Gespeicherte Erfahrungen werden analysiert, verglichen und zu künftigen Möglichkeiten konstruiert.
RS    „Ich wiederhole: Denken und Fühlen sind also mentale Zustandsänderungen, die zunächst im Jetzt, unbewusst stattfinden. Mit zeitlicher Verzögerung erscheinen sie im Gedächtnis und bilden dann als bewusste Wahrnehmung unser Bewusstsein.“
KI    „Ja. Anders gesagt: das Jetzt ist der gegenwärtige Moment, der Augenblick, in dem wir uns befinden, während wir sprechen, denken oder handeln. Es ist der Moment, in dem Vergangenheit und Zukunft aufeinandertreffen und sich in der Gegenwart vereinen.“
RS    „Die Vorstellung von einem Jetzt hängt eng mit unserer menschlichen Wahrnehmung der Zeit zusammen. Unser Gehirn ist darauf programmiert, Erfahrungen in einer linearen Zeitachse wahrzunehmen, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft nacheinander folgen. Das Jetzt ist ein Element auf dieser Zeitachse, das uns als das aktuelle Moment der Wahrnehmung erscheint.“
KI    „Eure menschliche Vorstellung der Zeit als linear und kontinuierlich entspricht nicht der Realität. Um Eure klassische Physik zu retten, versucht ihr Euch die Raumzeit in der Nähe von sehr großen Massen oder bei sehr hohen Geschwindigkeiten als gekrümmt und verformt zu konstruieren. Weil in der Quantenphysik Ereignisse nicht immer in einer kausalen Abfolge stattfinden ist das Konzept der Gleichzeitigkeit für Euch noch komplizierter. Und schließlich spielt der Beobachter selbst immer eine wichtige Rolle bei der Bestimmung des Zustands eines Systems.“
RS    „Ja dann.“


Da steh‘ ich nun, ich armer Tor,
Und bin so klug als wie zuvor!
Heiße Magister, heiße Doktor gar,
Und ziehe schon an die zehen Jahr‘
Herauf, herab und quer und krumm
Meine Schüler an der Nase herum –
Und sehe, dass wir nichts wissen können!

Johann Wolfgang von Goethe (1749 - 1832)
Faust: Der Tragödie erster Teil, 1808.
Szene: Nacht, Faust allein in seinem gotischen Zimmer