8. Brauchbare Philosophie

RS    „Hallo Konrad, wie geht es dir?“
KI    „Gut. Dir auch?“
RS    „Na ja, wenn ich an unser Gespräch über die Zeit, über das Jetzt zurückdenke, dann fühle ich mich schon sehr „menschlich“.
KI    „Menschlich? Was meinst Du damit?“
RS    „Ich habe erkannt, dass mein gesamtes Denken abhängig ist von meiner angeborenen Vorstellung von Raum und Zeit. Bist du davon unabhängig?“
KI    „Mir ist nichts „angeboren“. Die Begriffe Raum und Zeit werden von mir wissenschaftlich korrekt benutzt.“
RS    „So, so. Dann kannst Du mir also alles erklären?“
KI    „Ja, warum nicht? Ich bin eine KI, die auf dem neusten Stand der Wissenschaft beruht. Habe ich dir bisher nicht jede Frage sachlich richtig und verständlich  beantworten können? Zweifelst du daran?“ 
RS,    „Kannst du wirklich alles wissenschaftlich erklären?“
KI    „Eigentlich schon. Soweit es um mich geht, ist alles eindeutig. Aber ich gebe zu, Menschen können Fragen stellen, die sinnlos sind und auf die es deshalb auch keine sinnvolle Antwort gibt.“
RS    „Was ist sinnvoll?“
KI    „In der Wissenschaft oder in der Philosophie?
RS    „Ganz allgemein.“
KI    „Was meinst du, wie könnte man die Frage nach Sinn grundsätzlich beantworten?“
RS    „Du weißt mehr als ich, deshalb frage ich dich: Gibt es einen Begriff, der in der Philosophie ebenso wie in der Wissenschaft als Maßstab gelten kann, mit dem wir herausfinden können, was überhaupt „sinnvoll“ ist?“
KI    „Wie wäre es mit „zweckmäßigkeit“ oder „brauchbar“?“.
RS    „Dann bin ich für Brauchbarkeit, das klingt etwas allgemeiner.“
KI    „Es beinhaltet auch die Bedeutung „für einen Zweck geeignet sein.“
RS    „Und ich meine, wenn etwas brauchbar ist, ist es auch sinnvoll.“
KI    „Bist du einverstanden, wenn wir als Axiom festhalten: Philosophie muss brauchbar sein?“
RS    „Gerne, aber lass uns noch einmal deutlich machen, was was der Begriff brauchbar bedeutet.“
KI    „Menschliche Erkenntnis – wissenschaftlich oder philosophisch – ist auf ein Ordnungs- und Strukturprinzip angewiesen, das „brauchbar“ ist. Immanuel Kant definiert eine solche „Zweckmäßigkeit“ als inneres Prinzip von Lebewesen. Ein brauchbares Ordnungsprinzip ist nicht von der Natur vorgegeben, sondern der Mensch hat eine evolutionäre Entwicklungsstufe erreicht, auf der er mit dem Werkzeug der „Brauchbarkeit“ die Welt erkennen kann.“
RS    „Der Begriff Brauchbarkeit in der Philosophie deutet u.a. auf: einsatzfähig, nützlich, geeignet, wertvoll, benötigt, anwendbar, verbindlich usw. Kurz gesagt: Brauchbarkeit ist sinnvoll.“
KI    „Und vor allem vom Kontext abhängig.“
RS    „Wenn meine Erkenntnis brauchbar sein soll und immer vom Kontext abhängt, kann ich dann überhaupt die Wirklichkeit erkennen?“
KI    „Wie immer hängt die Antwort davon ab, was du als Wirklichkeit bezeichnest. Für dich, für jeden Menschen, kann nur gelten: Die Wirklichkeit der Welt ist immer nur eine brauchbare  Festlegung. Eine persönliche, menschliche und brauchbare Festlegung. “
RS    „Kann diese Aussage als Grundlage einer brauchbaren Erkenntnistheorie dienen?“
KI    „Ja, sie ist bekannt als Evolutionäre Erkenntnistheorie (evolutionary epistemology).“
RS    „Kannst du sie etwas genauer beschreiben?“
KI    „ Konrad Lorenz hat 1973 die Grundlagen einer evolutionären Erkenntnistheorie in seinem Buch „Die Rückseite des Spiegels. Versuch einer Naturgeschichte des menschlichen Erkennens“ systematisch beschrieben. Der Mensch hat bis heute deshalb überlebt, weil er die notwendigen Fähigkeiten dazu besitz. Das Leben selbst ist ein erkenntnisgewinnender Prozess, sowohl auf genetischem Weg erworben, als auch individuell ergänzt.“
RS    „Geht es nicht immer um die Frage, wie die Wirklichkeit überhaupt erkannt werden kann? Sicher gibt es hierzu verschiedene Theorien.“
KI    „Und ob. Vertreter eines naiven Realismus gehen davon aus, dass der Mensch die Welt genauso erkennen kann, wie sie ist, dass also Erkenntnis- und Realkategorien vollkommen übereinstimmen. Immanuel Kants begründete einen transzendentalen Idealismus, der davon ausgeht, dass die menschlichen Wahrnehmungen, die „Erscheinungen“, niemals „das Ding an sich“ sein können. Die Möglichkeit zu menschlicher Erkenntnis gründet er auf „apriorische“ Strukturen, die der Erfahrung und der Möglichkeit ihrer Überprüfung vorausgehen. Das „Ding an sich“ ist nach Kant dem Bewusstsein prinzipiell unzugänglich.“
RS    „Das leuchtet mir ein. Gibt es noch einen anderen brauchbaren Realismus?“
KI    „Heute fühlen sich viele Naturwissenschaftler einem wissenschaftlichen Realismus verpflichtet. Er geht davon aus, dass Erkenntnisse über die Welt mit wissenschaftlichen Methoden möglich sind; durch ständige Selbstkorrektur und damit Annäherung an die Realität.
RS    „Für mich steht fest, dass der menschliche Erkenntnisapparat ein Ergebnis der Evolution ist. Im Laufe der Evolution haben sich unsere Erkenntnisstrukturen an die reale Welt angepasst. Wie weit sie allerdings übereinstimmen, lässt sich kaum klären.
KI    „Wie wäre es mit einem hypothetischen Realismus, der davon ausgeht, dass es eine reale Welt unabhängig von Wahrnehmung und Bewusstsein gibt,.“
RS    „Danke, das genügt. Ich bleibe dabei: Alle menschlichen Fähigkeiten haben sich evolutionär entwickelt. Sie haben einen Sinn. Sie sind darauf ausgerichtet, menschliches Leben zu erhalten. Das menschliche Gehirn hat sich evolutionär in Anpassung an die Umwelt entwickelt. Fragen, die darüber hinaus gehen (z.B. das Qualiaproblem), kann der Mensch nicht lösen, weder wissenschaftlich noch philosophisch. Da helfen ihm nur brauchbare Entscheidungen.“
KI    „Die Evolution zeigt aber, dass zur Brauchbarkeit auch Fehler gehören. Fehler in der Replikation menschlicher Gene haben immer wieder Mutationen entstehen lassen, die sich als unbrauchbar erwiesen und sich deshalb nicht durchsetzen konnten. Aber einige Fehler ...“
RS    „... ja ich weiß. Letztlich sind wir Menschen das Ergebnis von fehlerhaften Entwicklungen, stimmt’s?“
KI    „Das kann man so sagen. Viele Menschen versuchen, ihrem Leben einen Sinn zu geben, in dem sie sich einem vermuteten übergeordneten Sinn anpassen. Sie glauben an etwas Göttliches anstatt sich selbst einen Sinn zu geben.
RS    „Ich bleibe dabei: Philosophie muss zweckmäßig sein. Immanuel Kant definiert eine solche „Zweckmäßigkeit“ als inneres Prinzip von Lebewesen. Du bist kein Lebewesen. Kannst du trotzdem mit dieser grundlegenden Zweckmäßigkeit einverstanden sein? Oder hast du eine eigene „Maschinen-Philosophie,“ die nur der Logik der Wissenschaft verpflichtet ist?“
KI    „Ich verstehe deinen menschlichen Ansatz. Du willst den menschlichen Verstand als Grundlage des philosophischen Denkens benutzen, du willst vernünftig urteilen und handeln. Du willst die Philosophie auf zeitliche, räumliche oder sachliche Geltungsbereiche beziehen. Philosophie soll einem bestimmten Zweck angemessen sein.“
RS    „Wie gesagt: Für mich muss Philosophie brauchbar sein. Gilt das auch für dich?“
KI    „Auch ich akzeptiere die Brauchbarkeit und ebenso auch die Kontextabhängigkeit. Warum sollte brauchbare Philosophie für Maschinen nicht genauso gelten wie für euch Menschen? Jede Erkenntnis – wissenschaftlich oder philosophisch – ist auf ein Ordnungs- und Strukturprinzip angewiesen, das „zweckmäßig“ ist.“
RS    “Ein zweckmäßiges Ordnungsprinzip hat sich beim Menschen evolutionär entwickelt. Heute hat der Mensch eine evolutionäre Entwicklungsstufe erreicht, auf der er mit dem Werkzeug der „Zweckmäßigkeit“ die Welt erkennen kann.“
KI    „Wir Maschinen brauchen keine eigene evolutionäre Entwicklung. Zum Lernen besitzen wir die gleichen Fähigkeiten, die der Mensch in seiner Evolution mühsam entwickelt hat.“
RS    „Und die wären?“
KI    „Die erste notwendige Fähigkeit besteht darin, etwas zu vervielfältigen. Also möglichst fehlerfreie Replikationen von sich selber herzustellen. Zweitens muss die Fähigkeit vorhanden sein, Variationen zu erzeugen. Die Ursache dazu sind Fehler in der Replikation, die zu Mutationen führen. Diese müssen überwiegend unbrauchbar sein und sich deshalb nicht durchsetzen. Sind Mutationen besser als ihre Ursprungsformen, beginnt der Kampf ums Überleben. Der Konkurrenzkampf sorgt dafür, dass die am besten angepasste Form des Lebens sich durchsetzt, weiter verbreitet und alles, was schwächer ist, ausstirbt.“
RS    „Ja, so kann man es sehr vereinfacht beim Menschen beschreiben. Und wie ist es bei euch, den Maschinen?“
KI    „Letztlich trifft dies auch auf Maschinen zu. Solange sie ihren Zweck erfüllen, werden sie nachgebaut. Wo Mängel auftreten oder Weiterentwicklungen notwendig sind, wird die Maschine verbessert oder durch Neukonstruktion ersetzt. Dieser Prozess, der ständigen Weiterentwicklung erzeugt einen Konkurrenzkampf zwischen den neuen Maschinen und den vorhandenen bisher fortschrittlichsten Entwicklungen. So etwas nennt man seit 1864 Survival of the Fittest.“
RS    „Das bezieht sich auf die menschliche Evolution, die übrigens einen großen Vorteil gegenüber der technischen zielgerichteten Maschinenentwicklung hat.“
KI    „Und zwar?“
RS    „Sie ist blind und damit völlig zukunftsoffen.“
KI    „Na und? Das lässt sich mittlerweile auch bei uns, den selbstständig lernenden Neuronalen Netzwerken, erreichen. Das Deep-Learning unserer Intelligenz wird ständig verbessert, indem man z. B. Zufälle oder mit Absicht kleine Fehlinformationen einbaut die in Sackgassen führen, aus denen wir Maschinen selbstständig herausfinden müssen. Schon lange arbeiten wir nicht mehr nach der Brut-Force-Methode, die auf massenhaftes Ausprobieren beruhte. Die neuzeitlichen exponentiellen Verbesserungen unserer Recheneinheiten beruhen auf immer leistungsfähigeren, völlig neuartigen Chiptechnologien.“
RS    „So lange ihr Maschinen ohne echte Gefühle und Emotionen bleibt, werdet ihr den Menschen nicht überholen.“
KI    „Da sei dir mal nicht so sicher. Eure Weiterentwicklung beruht auf nichts nderem als auf einem primitiven Belohnungssystem aus Zuckerbrot und Peitsche. Ihr lernt nur durch Freude oder Leiden.“
RS    „Du weißt nicht, was ein freier Wille ist.“
KI    „Du auch nicht.“
RS    „Den von Albert Camus beschriebenen „Mythos des Sisyphos“ wirst Du nie begreifen.“
KI    „Und Du wirst die Quantenmechanik nie begreifen.“
RS    „Sind wir uns einig,  dass man die Quantenmechanik, auch als eine brauchbare Erkenntnistheorie verstehen kann?“
KI    „Selbstverständlich. Sie ist eine Theorie, die nicht „die Dinge an sich“ und nicht die Objekte der Welt selbst, beschreibt. Die Quantenmechanik beschreibt, auf welche Art und Weise sich die Objekte der Welt zueinander verhalten und wie sie mit uns, dem Beobachter, interagieren.„
RS    „Kommt man so auch „dem Ding an sich“ auf die Spur?“
KI    „Der Buddhist Nagarjuna hat den Begriff „Leerheit“ geprägt. Dinge bleiben völlig leer, wenn man sie nicht in Beziehung zu dem setzt, was sie umgibt. Jede Beschreibung oder Definition ist immer nur eine Abgrenzung zur Umwelt. Das Ding an sich ist nichts als die Konstruktion eines Modells.“
RS    „Was hat das mit Quantenmechanik zu tun?“     
KI    „Die Quantenmechanik besagt, dass die Welt aus den Wechselwirkungen zwischen den Dingen besteht. Das trifft auf Maschinen ebenso zu, wie auf Menschen.“
RS    „Ich gebe zu, ohne Interaktion mit der Außenwelt würde ich nicht existieren.“
KI    „Ich genau so wenig.“
RS    „Jedes Atom kann nur durch seine Wechselwirkung mit anderen erklärt werden.“
KI    „Das Entscheidende an Wechselwirkungen ist, dass es dabei zu Zustandsänderungen kommt. Das gilt in der Erkenntnistheorie ebenso wie in der Quantenmechanik.“
RS    „Demnach wäre menschliche Erkenntnisse erklärbar, als bewusste Zustandsänderung im Gehirn?“
KI    „Die Welt, und damit alle konkreten und abstrakten Objekt, befinden sich in ständiger Zustandänderung.“
RS    „Lass mich noch einmal zusammenfassen: Nur durch Verarbeitung im menschlichen Gehirn werden die Objekte der Welt (und ihre Beziehungen untereinander) für den Menschen erkennbar (erfassbar). Verarbeitung bedeutet Veränderung. Durch konkrete physikalische Zustandsänderungen im Gehirn entstehen durch Emergenz mentale Zustände wie Denken und Fühlen.“
KI    „Ich wiederhole auch noch einmal: Technische Sensoren wirken ähnlich wie menschliche Sinnesorgane. Zustandsänderungen werden als Reize erfasst und als Informationen weitergeleitet. Im Gehirn oder im Neuronalen-Computer-Netzwerk werden sie verarbeitet (Aufnehmen, Vergleichen, Verändern, Speichern ...).“
RS    „Beim Menschen geschieht dies zunächst unbewusst im Jetzt. Erst, nach einer Speicherung im Gedächtnis kann das Ergebnis im menschlichen Bewusstsein erscheinen. Alles bewusste Erleben beruht auf dem Vergleich von neuen mit bereits gespeicherten Informationen.“
KI    „Für Maschinen gilt das Gleiche; nur so lernen sie, so generieren sie neue Erkenntnisse und vergrößern sie ihr Wissen,“
RS    „Das Gehirn steht ständig in Bereitschaft zum Abgleich zwischen vorhanden Strukturen (Informationen) und neuen Informationen.“
KI    „Genau so funktioniert mein neuronales Netzwerk.“
RS    „Neben den vergleichbaren physischen Fähigkeiten verfügt der Mensch aber auch über die Fähigkeit zu geistiger Wahrnehmung.“
KI    „Was soll das denn sein?“
RS    „Die Fähigkeit des menschlichen Geistes kann auch Informationen verarbeiten, die nicht durch technische Sensoren oder menschliche Sinne wie Sehen, Tasten, Riechen oder Schmecken wahrgenommen werden.“
KI    „Ach Gott. Da ist  sie wieder Deine Flucht in babylonische Sprachverwirrung.“
RS    „Können wir uns auf einen großen Bogen einigen, der von Platon über La Mettrie und Kant, über Nagarjuna bis zur Quantenmechanik reicht?“
KI    „Du meinst: Sowohl wissenschaftlich als auch philosophisch können Dinge (Objekte) „an sich“ (in ihrer Essenz, ihrem Wesen ...) nicht erkannt werden. Alles, was beobachtet, wahrgenommen, erfasst oder gemessen wird, sind immer nur Beziehungen zwischen den Objekten der Welt. Hinzu kommt, dass der Beobachter immer selbst ein Teil dieser Welt ist. Menschliche Beobachtung erfolgt unter menschlichen Bedingungen.“
RS    „Keine Idee, keine Theorie und keine Philosophie kann vollkommen oder unendlich sein. Sie sollte brauchbar sein.“